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Das Rätsel des Opfers
Schreiben, um Nina noch einmal zu erleben
Wilhelm Schmid
Frank Zweig, von Hause aus Physiker, sitzt in der Psychiatrie, aus welchen Gründen auch immer. Um zu dem „Freigang" zu kommen, den der Titel ihm verspricht, muß er erst durch diesen Roman hindurch und seine Lebensgeschichte erzählen, aber peu à peu, wohldosiert und kalkuliert. Er muß bereit sein, ein umfassendes Geständnis abzulegen. Es kommt darauf an, etwas zu gestehen, egal was: So führt Woelk die Geständnisgesellschaft vor, die uns nur allzu vertraut ist.
Soweit kann Frank Zweig noch mithalten. Er wird „nicht müde zu gestehen" und gesteht Tag für Tag. Das Problem ist nur: Niemand interessiert sich dafür. Es war Mord. An wem? Was war der Grund? Frank Zweig offeriert als einsichtigen Grund seine Kindheit, eine verkorkste Vaterbeziehung, das müßte genügen. Früh schon hatte der Vater ihm „sprachliche Mängel" vorgehalten. Aber niemand geht darauf ein. Statt dessen wird ein Gutachten erstellt: Das Gutachten rückt in den Mittelpunkt. Nicht der Täter, nicht sein Motiv, das Gutachten ist „das Bewegende überhaupt", das Ding an sich.
Der Gutachter hütet seinen Entwurf wie die Mutter ihr Kind, wie der Doktorand seine Dissertation. Er hat eine fixe Idee, für die er nur noch nach Beweisen sucht; Frank Zweig verdächtigt ihn der „Seelenspionage". Ein regelrechter Krieg wird mit allen Finessen zwischen den beiden geführt, mit hohem Einsatz, denn es geht um nichts Geringeres als die Grenzziehung zwischen Normalität und Anomalie. Die Auseinandersetzung zwischen Psychiatrie und Dichtung, von der die ganze Literaturgeschichte seit Hölderlin widerhallt, geht in die nächste Runde, von der man wünscht, es würde die letzte sein.
Da steht Wort gegen Wort, das Wort des Wahnsinns gegen das Wort der verwaltenden Vernunft. Das Wort, das für sich steht, gegen die Interpretation, mit der es überzogen und unter der es begraben wird. Die Attacke des Gutachters beantwortet Frank Zweig mit der Einrichtung eines Karteikastens: „Frügers Machtlosigkeit angesichts meines Karteikastens." Früger ist der begutachtende Arzt; der Karteikasten voller Notizzettel, auf denen diverse Begriffe stehen, ist das Machtinstrument desjenigen, der begutachtet wird. Ganze Nächte sind dem Erstellen, Umstellen und Gewichten der Begriffe gewidmet. Um den Gutachter in die Irre zu führen, leistet Frank Zweig eine Begriffsarbeit, die einen Philosophen Hegelscher Provenienz vor Neid erblassen ließe. Stoisch füllt er seinen Karteikasten aus, während Früger den Blick auf ihn richtet und in Gedanken schon an seinem Gutachten schreibt.
Frank Zweig protestiert dagegen, als „Kranker" abqualifiziert zu werden. Er besteht darauf, kein Kranker, sondern ein Mörder zu sein: Ein verzweifelter Aufstand gegen die Interpretation, gegen das Verständnis, gegen das Mitleid. Schwester Leonie, die Pflegerin, die gerade die Bettwäsche abzieht, antwortet ihm lakonisch: Derlei Unterschiede seien für die Wäscherei nebensächlich.
Um die starr fixierten Denkbahnen des „Gutachtens" zu durchkreuzen, läßt Frank Zweig nichts unversucht: Er konzipiert Nebenmotive, um die feindliche Interpretation auf andere Fährten zu locken. Begriffe werden von ihm systematisch ins Gespräch gebracht und ins Zentrum gerückt, nur um das eine zu erreichen: Das Gutachten soll von den stereotypen psychoanalytischen Klischees abweichen müssen, über deren Kamm das Individuum und sein „Fall“ geschert werden. Frank Zweig besteht auf unhintergehbarer Individualität: „Ich will keine Geschichte von der Stange." Er setzt seinen Stolz dagegen (Begriff: Stolz). Den soll keiner brechen, schon gar nicht irgendein Gutachten. Er analysiert den Analytiker, im klaren Bewußtsein, daß Zusammenhänge, die durchschaubar sind, auch beherrschbar werden. Sollte das Grundaxiom des Gutachters die Gesetzmäßigkeit menschlichen Handelns sein, so mußte ihm beizukommen sein durch ein Netz von konstruierten Gesetzmäßigkeiten, in denen er zu fangen war.
Die Geschichte dieser Beziehung zum Gutachter durchzieht das ganze Buch; sie überkreuzt sich mit der Erzählung einer anderen Geschichte: der Beziehung zu Nina. Geheimnisvoll im Zentrum von Anfang an: Nina. „Ich schreibe, um Nina noch einmal zu erleben." Die Schrift ruft die Gestalt ins Leben, die längst entschwunden ist oder die nur in den Träumen existiert, wer weiß. Mit der vierten Zeile des Buches ist Nina schon da, blickt nur einmal kurz auf und gräbt doch eine tiefe Spur ins Gedächtnis des Lesers. Später erst, wenn er dann einer Diskussion über Hochschulpolitik assistiert, die er irgendwie zu kennen glaubt, taucht Nina plötzlich wieder auf, dunkelgelockt und in einer Lederjacke, begleitet von tollen Adjektiven, „irre", „stark".
Man begreift: Die Geschichte, deren Ende am Anfang in einer einzigen hermetischen Sentenz präsentiert worden war, beginnt hier. Der Regisseur der Erzählung versteht sich aufs Filmemachen, auf die stumme, aber vielsagende Strukturierung der Sequenzen, die nur in Gesten und Bildern sprechen. Nina, wie sie ein Bein über das andere schlägt. Wie sie sich eine Zigarette nimmt, sich eine Streichholzschachtel angelt, das Köpfchen über die Schmirgelfläche zieht in dem winzigen Lichtblitz flammt der erste Funke der Liebe auf, der unversehens auch den Leser erfaßt. War denn über die Liebe nicht schon alles gesagt? „Nina rauchte und schwieg." Frank Zweig muß durch das Fegefeuer seiner eigenen Verliebtheit hindurch (...)
Das einzige Problem in der sich anbahnenden Beziehung, besteht darin, daß Nina sich zwischendurch mit einem Astrologen einläßt. In Italien. Frank Zweig haßt die Astrologie, Nina hätte es wissen müssen. Für Nina aber war es die pure Zufälligkeit, aus der eine gewisse Notwendigkeit resultierte. Ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnte, da es ihr gefiel. Zufall am Anfang, dann aber hat diese Beziehung Methode, und Nina treibt es mit dem Macker bei jeder Gelegenheit. Schließlich sagt sie es ihrem Physiker. Der staunt nicht schlecht, wie eine einzige kleine Information (diese Aussage) die ganze Situation und ihn selbst völlig verändern kann. Aber alle Semiotik hilft nichts. Was für Gründe sie denn gehabt haben könnte? „Warum brauchst du denn immer Gründe? Wie ich das hasse! Immer Gründe, Gründe, Gründe!“ Alles ist eine Frage des Stils. Sie hält ihm Lebensfeindlichkeit vor, und das trifft. Das einzige, was er sich selbst vorwirft, ist genau dies: nie eine Idee für sein eigenes Leben gehabt zu haben, es nie gestaltet zu haben. In diesem Moment nimmt er es in die Hand. Naturwissenschaftler haben keine Lebenskunst, kein Savoir-vivre? In diesem Moment wird alles anders.
Natürlich wird auf jeder Seite deutlich, daß es ein Physiker ist, der da schreibt: Woelk, 30 Jahre alt, ist Astrophysiker an der Technischen Universität Berlin. Ein trunkener Physiker allerdings, wenn man seinem Buch glauben darf: „Es kommt vor, da werde ich über meinen Gleichungen betrunken." So rückt Nietzsches Traum von der fröhlichen Wissenschaft näher. Ein Physiker auch, der die Rolle des Zufalls in der wissenschaftlichen Erkenntnis kennt und bejaht. Die Zufälligkeit (die Kontingenz) ist es, die ihn interessiert und fasziniert; die Zufälligkeit, die durch nichts zu erklären ist und die das ist, womit die Philosophen nie fertig werden. Gleichwohl konstatiert Woelk in seinem Roman eine „alte Liebe zur Philosophie“.
Die minutiösen Beobachtungen von Vorgängen, Bewegungen, Regungen, Haltungen, Dingen, Geschehnissen mit einer Liebe zum Detail, die ansteckend wirkt zeigen ein ganz großes Erzähltalent. Einer, von dem man hofft, daß er sich noch länger auf der Schwelle zwischen Physik und Literatur zu bewegen weiß. Die Zukunft gehört denen, die die Disziplinen überkreuzen, denn das andere, das Unerhörte entsteht an diesen Kreuzungspunkten. Daß die Geschichten in seinem Kopf Schlange stehen, wie Woelk seine Hauptfigur sagen läßt, glaubt man ihm ohne weiteres.
Was er schreibt, ist eine großartige Prosa, ganz auf der Höhe der Zeit: kurz angebunden, lakonisch, aber stakkato. Eine Prosa, die immer nur blitzartig hervorzuckt aus dem Meer des Ungesagten, Präzisionsprosa, immer nur ein Satz, ein Absatz, dann taucht die Rede wieder ab in den weißen Raum, um anderswo unerwartet wieder aufzutauchen. Die Stille nach jedem Satz, die dem Leser erlaubt, den eigenen Atem zu hören, die eigenen Gedanken zu denken. Abgehackte Sätze, die den Notatcharakter hervorheben. Aber so sprechen wir auch, so leben wir heute. Die Sätze und Absätze springen munter hin und her zwischen den verschiedenen Aspekten der Geschichte, ja die Geschichte wird so überhaupt erst entfaltet. Da wird kein roter Faden abgespult, da werden Realitäten ineinandergeschachtelt, Zeitebenen ausgetauscht, Fiktionen, Erinnerungen und Träume bis zur Ununterscheidbarkeit gemixt. Woelk arbeitet auch gerne mit Doppelungen: Das Gutachten wird verdoppelt durch die Notizen, der Gutachter durch einen weiteren Gutachter, dieser durch den Leser, Nina wird verdoppelt durch Schwester Leonie, diese wiederum durch ihre eigene Schwester bis man nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht; bis das ganze Gebäude zusammenstürzt wie ein Kartenhaus. Vertraut mit der vielfach verschlungenen Reflexion, unter der die Interpreten jedes Ereignis, jeden Akt begreifen, beherrscht der Autor meisterhaft die Inszenierung. Er führt den Leser, der den Fortgang zu kennen glaubt, immer wieder aufs neue in die Irre. Dieser Roman endet nicht. Er steht am Ende so offen wie das Leben in den tausend Situationen, die uns ratlos zurücklassen, bestenfalls mit einer vagen, süßen Erinnerung im Herzen und einem Wort auf den Lippen: Jedenfalls „darf ich diesen Kuß nicht vergessen“.